Jahresrückblick Teil IEnergiepolitik ist Sicherheitspolitik

Strommasten
Die Energiewelt wandelt sich: Ein Jahresrückblick. (Bild: blickpixel / pixabay)

Europa steckt in der fossil-atomaren Energiekrise mit wilden Gaspreisen, einem verschobenen Atomausstieg – und dem lang ersehnten Aufschwung für die Energiewende. Nun heißt es: Ausbauen, und zwar mit Lichtgeschwindigkeit.

21.12.2022 – Ende 2022 ist die Energiewelt eine vollkommen andere als noch vor einem Jahr. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellte die Strukturen der Energieversorgung Europas in Frage. Große Mengen Gas, Öl und Steinkohle wurden bisher aus Russland in die EU geliefert. Das ist Geschichte. Die EU beschloss Sanktionen gegen Russland, das seinerseits Gaslieferungen nach Deutschland im Sommer vollständig einstellte. Doch in die Energieunabhängigkeit ist es ein weiter Weg.

Ganz Europa, aber gerade das stark von russischem Gas abhängige Deutschland suchte nach alternativen Gaslieferanten. Derweil stiegen Energiepreise in schwindelerregende Höhen. Europa und Deutschland setzten alle Hebel in Bewegung, um eine Gasmangellage über den Winter zu verhindern. Ausgedehnte Energiesparmaßnahmen gehörten ebenso dazu wie die Verstaatlichung des Energieriesen Uniper und mehrerer Gasspeicher, ein Hochfahren der Flüssiggasimporte (LNG) und der Bau neuer – überdimensionierter – Gasterminals, kurzfristig mehr Kohlestrom sowie zuletzt die Strom- und Gaspreisbremse. Währenddessen wurden nicht nur Nordstream 2, sondern auch Nordstream 1 wohl dem Meeresboden übergeben.

Ein Lichtblick in der Krise: Der notwendige Ausbau Erneuerbarer Energien Anlagen wurde politisch endlich ernster genommen. Von unerwarteter Seite wurden Erneuerbare als Freiheitsenergien deklariert und Maßnahmen für die Energiewende gefordert. Es ist Tempo gefragt – doch es hakt noch gewaltig an allen Ecken und Enden.

Lieferschwierigkeiten, Fachkräftemangel und nicht zuletzt noch immer unzureichende Regelungen erschweren den grünen Wandel. Doch eines ist in diesem Jahr allen klar geworden: Die fossile Abhängigkeit ist eine Gefahr auf allen Ebenen, vom Klima bis zur Wirtschaft. „Energiepolitik ist Sicherheitspolitik. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien ist eine Frage der nationalen und europäischen Sicherheit“, erklärte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck.

Was hat die Ampel getan, um mehr Erneuerbare ans Netz zu bringen?

Der erste große politische Wurf war das Osterpaket, das allerdings erst kurz vor der Sommerpause den Bundestag passierte. Es enthielt eine Novelle des EEG und Änderungen an anderen Gesetzen. Windkraft, Solarenergie und kleine Wasserkraft gelten nun als im überragenden öffentlichen Interesse stehend, was bei Abwägungsentscheidungen gewürdigt werden muss. Weiter wurden die Ausbauziele für Wind und Solar ambitionierter formuliert und die Flächenkulisse für Solarparks ausgeweitet. Auch für die Windkraft gibt es mehr mögliche Standorte: Sie dürfen in Zukunft näher an Funkanlagen stehen. Aber nicht nur das: mit dem Wind-an-Land-Gesetz (WaLG) werden am 1. Februar 2023 eine ganze Reihe von neuen Regeln in Kraft treten, die das Flächenproblem für die Windenergie mildern sollen. Ebenfalls eine gute Nachricht für die Windkraft: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Länder Windkraft im Wald nicht generell verbieten dürfen. Das Repowering von Windkraftanlagen wird erleichtert – ebenso wie für PV-Anlagen.

Luft nach oben bei Windkraft und Photovoltaik

Um die Zielvorgabe 80 Prozent Erneuerbare im deutschen Stromsystem im Jahr 2030 zu schaffen, sind längst nicht alle notwendigen Hebel in Bewegung gesetzt. Nicht wenige Ausschreibungen – sowohl Solar als auch Wind – waren in diesem Jahr unterzeichnet, d.h. es bewarben sich weniger Projekte um einen Zuschlag als möglich gewesen wäre. Das liegt auch an steigenden Preisen für Komponenten, Probleme in den Lieferketten und gestiegenen Zinsen. Dennoch, die Koalition, hat auch einige echte Verbesserungen der Rahmenbedingungen geschafft – beispielsweise mit der Ausweitung der Flächenkulisse für Windkraft und Photovoltaik oder den Steuererleichterungen für kleine PV-Anlagen auf Gebäuden.

Den veränderten Rahmenbedingungen zum Trotz wiederholt sich beim Ausbau der Erneuerbaren Energien der Trend der letzten Jahre. Bei der Windkraft geschieht viel zu wenig. Bis zum Herbst stieg die neu installierte Brutto-Leistung um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum: ein kleines Plus, aber bei weitem nicht genug. Ende des Jahres könnten insgesamt neue Windkraftanlagenmit einer Leistung von 2,5 Gigawatt am Netz sein. Bezieht man die stillgelegten Anlagen in die Rechnung ein, ist ein Netto-Zubau von 2 Gigawatt realistisch (2021: 1,67 GW). Eine Verdreifachung des Ausbautempos, wie von der Bundesregierung als Ziel formuliert, scheint nach wie vor unerreichbar.

Die Photovoltaik kann mehr Erfolge vorweisen, aber auch dabei müsste es eigentlich schneller vorangehen. In den ersten neun Monaten wurden 5,62 Gigawatt installiert. Am Ende des Jahres könnten 7,5 Gigawatt neue Photovoltaikleistung auf der Uhr stehen. Das entspräche einem Wachstum zwischen 25 und 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Notwendig sind aber auch hier größere Mengen, rund 20 Gigawatt neue PV-Leistung jährlich bis 2030 müssten es sein.

Die Zeitenwende für den Klimaschutz ist der Ampel-Regierung noch nicht gelungen. Zwar wurden einige Akzente für mehr Erneuerbare und weniger Bürokratie gesetzt, aber in der aktuellen fossilen Energiekrise bekämpft die Regierung mit Entlastungspaketen eher die Symptome und bringt keinen strukturellen Wandel zur Überwindung der fossilen Abhängigkeit auf den Weg.

Der gefährliche Hochlauf fossiler Energien

Für das rheinische Revier in Nordrhein-Westfalen ist der Kohleausstieg 2030 inzwischen zwar beschlossene Sache, aber kurzfristig sollen zwei Kraftwerksblöcke des Energieversorgers RWE länger laufen. Und das zwei Jahre länger als geplant. Bundesregierung und Landesregierung NRW erklären, dass damit Versorgung gesichert und mit dem früheren Kohleausstieg trotzdem Emissionen eingespart werden. Umweltorganisationen und wissenschaftliche Institute bezweifeln dies. Der kurzfristige Hochlauf könnte am Ende sogar zu mehr Emissionen führen, da ein marktgetriebener Ausstieg aus der Kohleverstromung ohnehin früher als 2038 erfolgt wäre. Zudem sieht die Einigung zwischen Politik und RWE vor, die Ortschaft Lützerath für den Braunkohleabbau im Tagebau Garzweiler zu vernichten. Ab Januar könnte die Räumung erfolgen. Dem wollen sich Tausende entgegenstellen.

Für das zweite große Braunkohleabbaugebiet in Deutschland, dem Lausitzer Revier, haben Politik und der zuständige Energiekonzern – die LEAG –   noch keine Einigung für einen vorgezogenen Kohleausstieg erzielt. Das Versprechen der Bundesregierung, den Kohleausstieg in ganz Deutschland „idealerweise auf 2030“ vorzuziehen, gilt weiterhin. Welche Ewigkeitslasten der Braunkohleabbau und die Kohleverstromung haben, zeigte sich insbesondere diesen Sommer wieder in der Lausitz. Neue Kohlemeiler sind in Deutschland immerhin nicht in Planung. Weltweit sieht das anders aus. Die Global Coal Exit List, die detaillierte Daten über mehr als 1.000 Kohleunternehmen und über 2.000 Tochtergesellschaften umfasst, kommt auf 476 Gigawatt Kohlekraft, die weltweit in Planung ist. Vorreiter sind dabei chinesische Unternehmen, auf die 61 Prozent der Expansionspläne entfallen.

Auch Öl- und Gasunternehmen sind weiter auf Expansionskurs. Die Global Oil and Gas Exit List identifiziert aktuell 512 globale Unternehmen, die schon in den nächsten ein bis sieben Jahren bislang unerschlossene Ressourcen von 230 Milliarden Barrel Öläquivalenten in Produktion bringen wollen. Dies würde 30-mal höhere Treibhausgasemissionen verursachen als die EU in einem Jahr verbraucht. Besonders aktiv sind die fossilen Unternehmen auf dem afrikanischen Kontinent. 5,1 Milliarden US-Dollar gaben (meist ausländische) Unternehmen dieses Jahr für die Exploration neuer Öl- und Gasvorkommen in afrikanischen Ländern aus. Unterstützt wird dieses Vorgehen von Staaten weltweit – wie etwa Deutschland. Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte im Mai eine Korrektur der COP26-Vereinbarung an, wonach Staaten keine öffentlichen Gelder mehr in fossile Infrastrukturen im Ausland investieren wollen. Im Senegal könnte Deutschland den Aufbau einer LNG-Infrastruktur für den Export unterstützen.

Die mit der Energiekrise einhergehenden hohen Preise für Öl, Gas und Kohle sorgen für Goldgräberstimmung bei den fossilen Konzernen, die in vielen Ländern vor privaten Schiedsgerichten auf Schadensersatz klagen können, wenn Regierungen fossilen Infrastrukturen mit neuen Gesetzen Grenzen setzen. Milliarden Euros und Dollars konnten Konzerne schon mit dem Verweis auf Klagemöglichkeiten nach dem sogenannten Energiecharta-Vertrag aus Staaten herauspressen, wie etwa Vattenfall für den deutschen Atomausstieg. Auch die Entschädigungen an RWE und LEAG für den deutschen Kohleausstieg könnten auf den Energiecharta-Vertrag zurückzuführen sein. Zuletzt wurde Italien im August vor einem privaten Schiedsgericht zur Zahlung von über 250 Millionen Euro an das britische Öl- und Gasunternehmen Rockhopper Explorations verurteilt. Italien ist bereits 2016 aus dem Vertrag ausgetreten, konnte aber trotzdem noch verurteilt werden. In diesem Jahr haben auch Deutschland, Frankreich, Spanien, Polen und die Niederlande ihren Austritt angekündigt. Nachdem eine Reform des Vertrags auch die Mehrheit der Mitgliedsstaaten verfehlte, steht ´dieser nun endgültig vor dem Aus. Für den Klimaschutz, nach vielen schlechten, mal wieder eine gute Nachricht.

Atomkraft nein danke!

Der Jahresumschwung begann mit einem Knall: Die Europäische Kommission ließ im letzten Moment verlauten, Atomkraft und Erdgas in die neue EU-Taxonomie für nachhaltige Investitionen aufzunehmen. In der vermeintlich grünen Taxonomie sind Umweltziele und Nachhaltigkeitskriterien für Investitionen festgelegt, die den Strukturwandel in der EU fördern sollen. Deutschland hatte sich zuvor für die Aufnahme von Erdgas, und Frankreich für die Aufnahme von Atomkraft stark gemacht. Gegenwind verschiedener Staaten sowie aus dem EU-Parlament blieben zwecklos. Eine Reihe von NGOs haben inzwischen eine interne juristische Prüfung des Rechtsakts beantragt und Österreich reichte Klage ein. Mit Klimaschutz haben Atomkraft und Erdgas schließlich nichts zu tun.

Und doch ploppt die Debatte immer wieder auf. Könnte es bald eine Renaissance der Atomkraft in Europa geben? Frankreich stellte Anfang des Jahres neue AKW-Ausbaupläne vor. Auch Serbien, Rumänien, Bulgarien, Estland, Polen und die Niederlande festigten Pläne für neuen Atomstrom. Ende 2021 ging erstmals seit Fukushima ein neuer Reaktor ans europäische Netz. Der finnische Reaktor Olkiluoto III hatte 13 Jahre Verspätung und kostet mehr als dreimal so viel wie geplant. Ähnliche Verzögerungen und Kostenexplosionen gibt es bei allen AKW-Neubauten. Hinkley Point in England und Flamanville in Frankreich führten dies auch in diesem Jahr wieder vor, indem sie weiter teurer und nicht fertig wurden.

Der Ukraine-Krieg zeigte dabei erneut unmissverständlich, wie gefährlich die sogenannte zivile Nutzung der Atomkraft ist. Russische Truppen marschierten gleich zu Anfang des Ukraine-Kriegs über verstrahlte Erde der Atomruine Tschernobyl und haben nach vielen Angriffen das größte Atomkraftwerk Europas Saporischschja eingenommen. Der Angriff verstößt gegen die UN-Charta und das Völkerrecht und stellt eine Zäsur in der europäischen Geschichte dar. Zum ersten Mal wurde ein funktionsfähiges und mit Brennmaterial bestücktes Atomkraftwerk angegriffen. Seit Beginn des Krieges wächst die Sorge vor einem Gau. Viele Länder, darunter auch Deutschland, sowie die Internationale Atomenergiebehörde riefen dazu auf, das AKW zur Sperrzone zu erklären. Auf Atomenergie ist in Krisenzeiten kein Verlass.

Dem Atomland Frankreich musste Deutschland bereits im Sommer mit Ökostrom aushelfen. Defekte, Probleme mit der Kühlung und Wartungsarbeiten sorgten dafür, dass französische Atomkraftwerke nicht ausreichend Strom lieferten. Neben den physischen Risiken wurde erstmals breiter diskutiert, dass Europa nicht nur beim Gas, sondern auch für den Brennstoff von AKW hochgradig abhängig von Russland ist. Von Handelsblockaden blieb dieser allerdings bisher ausgeschlossen.

Deutschlands hart erkämpfter Atomausstieg wurde ebenfalls vom Krieg getroffen. Analysen hatten zwar erneut bestätigt, dass eine Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken nicht nur teurer und unsicher wäre, sondern zusätzlich die notwendige Ausbaugeschwindigkeit von Erneuerbaren drosseln würde. Nach Diskussionen um einen langfristigen Weiterbetrieb wurden trotzdem zwei deutsche Atomkraftwerke als Notreserve von vorgehalten und der Atomausstieg verschoben. Im Frühling 2023 soll nun endgültig Schluss sein.

Morgen gibt es Teil II unseres Jahresrückblicks.

Team energiezukunft - Nicole Allé, Julia Broich, Petra Franke, Manuel Grisard

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