Foto: Bayern Innovativ

Nachgefragt 22.06.2018

„Zu viel Blindleistung an den falschen Orten“

Für das Gelingen der Energiewende muss die Sektorenkopplung energie- und kosteneffizient gelingen. Prof. Brückl fordert einen Markt für Systemdienstleistungen im Stromnetz. Zudem sollten Netzbetreiber die Blindleistung vergüten – denn trotz mehr Blindleistung gibt es Defizite im Übertragungsnetz.

Professor Oliver Brückl, Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg


Nachgefragt 22.06.2018

„Zu viel Blindleistung an den falschen Orten“

Für das Gelingen der Energiewende muss die Sektorenkopplung energie- und kosteneffizient gelingen. Prof. Brückl fordert einen Markt für Systemdienstleistungen im Stromnetz. Zudem sollten Netzbetreiber die Blindleistung vergüten – denn trotz mehr Blindleistung gibt es Defizite im Übertragungsnetz.

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Professor Oliver Brückl, Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg



22.06.2018 – Professor Oliver Brückl lehrt an der Ostbayerischen Technischen Hochschule in Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Netzstabilität, System- und Versorgungssicherheit. Er hat unter anderem eine Studie im Auftrag der dena zu dem Thema verfasst.

Professor Brückl, wie kann die Sektorenkopplung zwischen Strom- und anderen Netzen besonders effizient gelingen?

Ich bin überzeugt, dass die Kopplung von Sektoren besonders energieeffizient gelingen kann, vor allem muss sie aber auch kosteneffizient gelingen. Die Randbedingungen sollten ideologiebefreit und technologieoffen gestaltet werden. Das bedeutet, dass wir einerseits konsequent auf marktwirtschaftliche Prozesse setzen und anderseits keine Quersubventionierungen zwischen den Energiebereichen erlauben. Nur geeignete Preissignale können das Zusammenspiel der Millionen von Erzeugungs-, Speicheranlagen sowie Verbraucher mit Blick auf den Erzeugungsausgleich, aber auch hinsichtlich der Versorgungssicherheit bewerkstelligen.

Immerhin konkurrieren verschiedene technologischen Lösungen und die Voraussetzungen in den einzelnen Regionen und bei Verbrauchern unterscheiden sich stark.

Richtig. Und genau deshalb sehe ich die Flexibilitätsmärkte als einen Schlüsselbaustein. Jedoch verstehe ich darunter nicht eine bestimmte Form des Markthandels von Wirkleistung mit besonderem Bezug zur Netzentlastung, sondern vielfältig ausgestaltete Handelsformen, beispielsweise von reinen energiebasierten bis hin zu leistungsabgesicherten Handelsprodukten. Auch die Blindleistung sehe ich künftig miteinbezogen. Insofern würde ich eher von Systemdienstleistungsmärkten, als von Flexibilitätsmärkten sprechen. Denn die Spannungshaltung ist eine Systemdienstleistung, die man über eine veränderte Wirkleistung erbringen kann, zum Beispiel kann ein Kraftwerk nach Bedarf mehr oder weniger Leistung bereitstellen, um die Spannung im Netz stabil zu halten.

Wie können Erneuerbare künftig mehr Systemdienstleistungen für Netz bereitstellen?

Diese Frage würde sich erübrigen, wenn Netzbetreiber Systemdienstleistungen marktwirtschaftlich basiert beschaffen müssten. Wir sehen ja am Beispiel der Regelleistungsmärkte, wie effizient dies funktioniert. Vor 20 Jahren hätte sich diese Erfolgsgeschichte kaum jemand vorstellen können. Es geht auch nicht darum, mehr bereitzustellen, sondern die Systemdienstleistungen an den richtigen Stellen, im richtigen Umfang mit der richtigen Regeldynamik. Hier können in meinen Augen nur marktwirtschaftlich basierte Ansätze auf Dauer erfolgreich sein. Davon sind wir derzeit noch sehr weit entfernt.

Wie können Photovoltaikanlagen die Verteilnetze entlasten?

PV-Anlagen dienen der Stromerzeugung. Wenn von Entlastung die Rede ist, bezieht sich das immer nur auf einen temporären Zustand mit sehr hoher Einspeisung. Aber hier sind wir genau an dem Punkt, wo wir eine Differenzierung beziehungsweise einen umfassenderen Rundumblick für das System benötigen. Denn eine grundsätzliche Entlastung der Netze kann nicht das Ziel sein. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob der damit verbundene Netzausbau durch andere Alternativen kosteneffizienter vermieden werden kann. Hierzu haben wir in Deutschland 2016 gesetzlich verankert die Einspeisespitzenkappung eingeführt. Nun kann der Netzbetreiber anhand der Kosten für die verlorene Energie prüfen, ob diese für ihn geringer oder höher als der Netzausbau ausfallen. Wir haben also nun einen Wettbewerb unter mehreren Technologien.

Kann das direkte Zusammenspiel von Photovoltaikanlagen mit Speichern einen Beitrag zur Netzstabilisierung leisten?

Auch hier möchte ich betonen, dass dies nicht unbedingt den heiligen Gral darstellt – was aber viele glauben. Denn die „Entlastung“ bezieht sich höchstens auf einige Stunden im Jahr. Eine Refinanzierung eines Speichers alleine darüber ist nicht möglich. Also braucht es dafür auch weitere Geschäftsmodelle. So kann es am Ende auch sinnvoll sein, dass die Speicher eben nicht dort installiert sind, wo sich die Erzeugungsanlagen befinden, sondern zum Beispiel in Verbrauchernähe oder an einer anderen netztechnisch strategisch günstigeren Stelle.

Wie sieht das konkret aus?

Ein Industriebetrieb, der sich vor einem Stromausfall absichern möchte, muss bereit sein, mehr für den Speicher zu bezahlen. Was nützt es, in der Niederspannung, wo Netzausbau recht einfach und günstig umzusetzen ist, Speicher in Verbindung mit dortigen Photovoltaikanlagen zu installieren, wenn Sie damit kaum einen sinnvollen Beitrag zur Entlastung in einem Netzabschnitt im Hochspannungsbereich leisten können, dort aber die Kosten viel höher wären. Deswegen bin ich der Überzeugung, dass wir ein insgesamt marktwirtschaftlich basiertes Zusammenspiel der verschiedenen Netzteilnehmer benötigen. Wir müssen dahinkommen, dass die Netzbetreiber entsprechende Preissignale für ein netzdienliches Verhalten bilden können. Die braucht das System und daran arbeite ich mit meinem Forschungsteam gerade.

Haben sich die Anschlussbedingungen für PV-Anlagen verbessert oder gibt es noch Hemmnisse?

Solarstromanlagen müssen laut Netzanschlussbedingungen seit 2009 in der Mittelspannung und seit 2012 in der Niederspannung bestimmte Anforderungen erfüllen. Dabei gibt es positive Aspekte, aber auch negative Tendenzen. Denn selbstverständlich müssen auch PV-Anlagen ihren Beitrag zur Netzsicherheit leisten. Die Wirkleistungsreduktion bei Überfrequenzen und die Fault-Ride-Through-Fähigkeit zählen für mich als zwingend dazu. Unter letzterem versteht man, dass der Generator den synchronen Betrieb aufrechterhält, wenn eine Störung in der Umgebung des Generators auftritt.

Wo drückt Sie der Schuh?

Es bereitet mir große Sorgen, wenn ich auf die Blindleistungsanforderungen blicke, ob das heutige System geeignet ist, die Energiewende effizient und kostengünstig umzusetzen. Wir verpflichten alle Anlagen in hohem Maße Blindleistung kostenlos bereitzustellen. Obwohl wir künftig dadurch ein Vielfaches mehr gegenüber früher installiert haben werden, müssen wir weiterhin mit Defiziten im Übertragungsnetz rechnen und damit weiterhin zusätzlich konventionelle Kompensationsanlagen installieren. Und das obwohl insgesamt über ganz Deutschland gesehen, der Blindleistungsbedarf nur gering steigen wird. Mein Fazit: Wir installieren zu viel Blindleistung an den falschen Orten.

Wie kann Abhilfe geschaffen werden?

Beispielsweise dadurch, dass die Netzbetreiber die Blindleistung vergüten müssen. Dann würde ziemlich schnell transparent werden, wo wir wirklich Blindleistung benötigen und wo die Spannungshaltung durch Blindleistung wirklich kostengünstiger ist, als durch andere Maßnahmen wie eine Einspeisespitzenkappung oder regelbare Ortsnetztransformatoren, um nur einige zu nennen. Wir haben dazu für das Bundeswirtschaftsministerium eine Blindleistungsstudie erstellt, in der diese Optimierungspotenziale aufgezeigt werden. Auch im Rahmen eines Gutachtens für die dena konnten wir anhand eines Mittelspannungsnetzes zeigen, dass die flächendeckende Vorhaltung von Blindleistung zu den teuersten Formen der Spannungshaltung zählt. Hier sehe ich großen Handlungsbedarf. Das bedeutet allerdings einen Paradigmenwechsel – und deshalb hohen Widerstand einiger Akteure.

Das Interview führte Niels Hendrik Petersen.

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